Eine naturwissenschaftliche Schrift über den Schnee als Neujahrsgabe an einen Freund
Johannes Kepler (1571-1630) legte seine Theorie über die hexagonale Gestalt des Schneekristalls nicht in einer nüchternen Abhandlung vor, sondern kleidete seine naturwissenschaftliche Schrift in eine gef?llige Form als Neujahrsgeschenk (strena) an seinen Freund und G?nner Johann Matth?us Wacker von Wackenfels. In scholastischer Tradition lockerte er seine ?berlegungen in Vulg?rlatein durch private Scherze sowie geistreiche Anspielungen auf antike Dramen, Philosophie und Heldenepik auf.???
Nicht nur Verweise auf die klassische Zeit erschweren heute so manchem Leser die Lektüre, sondern auch findige Wortspiele, die auf den Gegenstand und Anlass dieser literarischen Gabe Bezug nehmen: Die Flüchtigkeit und das geringe Gewicht des Schnees lassen diesen wie ein Nichts erscheinen, der umgangssprachlich im Deutschen als ?Nix“ bezeichnet werden kann (zugleich lateinisch ?nix“: der Schnee).
Die deutsche ?bersetzung findet ihre Grenzen an der Homonymie:
Ei ja, beim Herkules, ich habe ein Ding, das kleiner ist als irgendein Tropfen, und das doch eine Form besitzt, ei, welch h?chst erwünschtes Neujahrsgeschenk für einen, der das Nichts liebt, und das wert ist, da? es gerade ein Mathematiker schenkt, der ja nichts hat und nichts bekommt, und das dennoch vom Himmel herab f?llt und die ?hnlichkeit der Sterne an sich tr?gt.
(Strunz/Borm S. 4.)
Ich mu? zu meinem Herren und Beschützer zurückkehren, solange das kleine Neujahrsgeschenk noch bestehen bleibt, damit es nicht durch den warmen K?rperdunst in ein Nichts vergeht.
Und sieh’ da, welch bedeutsamer Name. O Ding, das für WACKHER, der Nichts liebt, ?u?erst genehm ist. Nam si a Germano quaeras Nix quid sit, respondebit Nihil, siquidem Latine possi.
Kepler hatte allen Grund seinem Freund von Wackenfels dankbar zu sein: Obgleich er als kaiserlicher Mathematiker besch?ftigt war, plagten ihn – wegen Gehaltsausst?nden – Geldsorgen. Sein Freund versorgte ihn mit aktueller Forschungsliteratur und lieh ihm sein Fernrohr für Beobachtungen des n?chtlichen Himmels. Zudem fand Kepler in Wackher einen ebenbürtigen Gespr?chspartner, mit dem er über naturwissenschaftliche Theorien ebenso wie sch?ngeistige Themen diskutieren konnte. Daher ist die Selbstbeschreibung Keplers als ?Mathematiker, der nichts hat und nichts bekommt“, durchaus w?rtlich zu verstehen. bwin娱乐_bwin娱乐官网欢迎您@e finanziellen N?te waren übrigens der Anlass für Keplers letzten Aufenthalt in Regensburg: In der Hoffnung, vom Kaiser sein Sal?r einfordern zu k?nnen, reiste er 1630 zum Reichstag, erkrankte jedoch schwer und verstarb.
Keplers Abhandlung über den Schnee erschien nicht etwa als pers?nlicher Brief, wie man vielleicht aus den privaten Anspielungen schlie?en k?nnte, sondern war von Anfang an als Ver?ffentlichung für eine breite Rezeption konzipiert. Lange Zeit wurde diese wenige Seiten umfassende Schrift in ihrer Bedeutung kaum gewürdigt. Zu sehr standen die drei Keplerschen Gesetze über die Berechnung der Planetenbahnen im Vordergrund. Dabei werden in der strena die gleichen Grunds?tze der Harmonie im Mikrokosmos wie einst im Makrokosmos des Weltalls verfolgt. Kepler ahnte hier den Kristallaufbau von Festk?rpern voraus.
Als Anlass für seine Schrift über die hexagonale Form des Schneekristalls nennt Kepler seinen Spaziergang über die Karlsbrücke in Prag, als es zuf?llig zu schneien begann. Der Mathematiker beobachtete auf seinem dunklen Mantel die einzelnen Kristalle genau und stellte fest, dass sie alle eine regelm??ige sechseckige Gestalt einnehmen:
?[...] da es immer so ist, sooft es zuschneien beginnt, da? jene ersten Schneeteilchen die Form von sechseckigen Sternchen an sich haben, mu? da ein bestimmter Grund vorliegen. Denn wenn es durch Zufall gesch?he, warum fallen dann nicht in gleicher Weise Fünfecke oder Siebenecke, warum denn immer Sechsecke, sofern sie noch nicht ineinander verfilzt sind und aus gleich welchem Grunde zu einer H?ufung zusammengeklebt sind, sondern sp?rlich getrennt?“ (Strunz/Borm: S. 5.)
Zieht man den literarischen Charakter der strena in Betracht, so darf man den scheinbar biographischen Anlass, der eine beil?ufige Begebenheit erz?hlt, als launige Hinführung des Lesers an das recht komplexe Thema einsch?tzen. Wahrscheinlich besch?ftigte sich Kepler mit dem Thema der hexagonalen Form als dichteste Packung auf Grund eines Briefverkehrs mit dem englischen Naturwissenschaftler Thomas Harriot schon l?nger, der anl?sslich einer Expedition eine Formel entwickeln sollte, wie viele Kanonenkugeln in einen vorgegeben Raum (z. B. Laderaum eines Schiffs) passen. Es sollte die maximale Dichte an Kanonenkugeln (also Kugeln mit gleichem Durchmesser und Gewicht) im Verh?ltnis zum Laderaums eines Schiffs mathematisch ermittelt werden.
Für die zweidimensionale Ebene nahm Kepler als die dichteste Packung einen hexagonalen Verbund an, für die dreidimensionale Ebene eine Methode, wie Gemüseh?ndler rundes Obst stapeln. Er beschreibt die sog. Methode der kubisch dichtesten Kugelpackung (CCP, cubic closest packing). Nach einer Anordnung des runden Obsts in Reih und Glied werden die Lücken in der n?chsten Ebene versetzt gefüllt, so dass erst die vierte Ebene in der Anordnung mit der ersten identisch ist.
Johannes Kepler: Strena. Frankfurt am Main 1611. S. 9.
Daneben gibt es auch die hexagonal dichteste Packung (HCP, hexagonal closest packing), bei der die dritte Kugelebene mit der ersten identisch ist, d. h. immer die gleichen Lücken bleiben frei. Nach Goetz unterscheidet Kepler offenbar nicht zwischen diesen beiden Stapelmethoden, bei denen jede Kugel von 12 weiteren berührt (Ku?- oder Koordinationszahl: 12) und eine Dichte von ca. 74,05% im unendlichen Raum erreicht wird. Für den zweidimensionalen Raum stellt Kepler jedoch die Varianten einer hexagonalen oder einer quadratisch angeordneten Basis vor.
Obgleich Kepler keine Differenzierung zwischen den beiden besprochenen Kugelpackungen trifft (im Falle des Schneekristalls w?re nach heutigem Verst?ndnis durch seine molekulare Beschaffenheit die hexagonale Kugelpackung die relevante Darstellung), liegt die Bedeutung seiner ?berlegung darin, dass eine dichteste Kugelpackung die sechsfache Struktur des Schneekristalls erkl?ren kann.
Johannes Kepler: Strena. Frankfurt am Main 1611. S. 10.
Kepler sucht über seine theoretischen ?berlegungen hinaus, Beispiele in der Natur zu finden, da ?der Grund der sechseckig geformten Figur bei dessen Wirken liegt.“ Ihn besch?ftigt die Frage, wie diese Art der ?Wirkung“ zu beschreiben sei, welche Ursache sie habe, ob die Form angeboren oder durch ?u?ere Einflüsse bedingt sei: Ob es die sechseckige Figur aus einer Notwendigkeit des Materials bewirke oder aus ihrer Natur, der entweder der Urtyp der Sch?nheit, die in einem Sechseck liegt, angeboren ist, oder ein Wissen um das Ziel, zu dem diese Figur führt?
(Strunz/Borm: S. 5.)
Er erkennt, dass die sechseckige Form der Bienenwabe sich neben Dreiecken und Quadraten eignet, eine Fl?che lückenlos zu bedecken: Das Hexagon sei jedoch den beiden anderen geometrischen Figuren überlegen, da es bei gleicher Seitenl?nge den gr??ten Fl?cheninhalt ausweise. Die Biene nutze daher diese M?glichkeit, um m?glichst viel Raum einnehmen zu k?nnen. Nur eine runde Grundform k?nne mehr Fl?che bieten, eigne sich jedoch in der r?umlichen Form eines Zylinders nicht, da eine Fl?che nicht lückenlos überbaut werden und in die Zwischenr?ume K?lte eindringen k?nne. Zudem würde eine Biene mehr Wachs produzieren und verbauen müssen, da sie bei einer zylindrischen Wabe nur punktuelle Berührungspunkte zu ihren Nachbarn habe, w?hrend sie bei der hexagonalen Bauweise die Nachbarw?nde als ihre eigenen nutzen und somit Energie wie Material sparen k?nne. Ein weiteres Argument Keplers, dass runde W?nde geringere Stabilit?t aufweisen, geht allerdings ins Leere.
Der Mathematiker bemerkt ferner, dass eine jede Biene nicht nur sechs Nachbarn habe, sondern neun, da die hexagonale Bodenplatte Deckensegmente für drei gegenüberliegende Waben zur Verfügung stelle. (Merkwürdigerweise führt hier Kepler nicht das Argument einer soliden Bauweise an). Insgesamt beurteilt Kepler ein Hexagon – in neuplatonischer Manier – als Ausdruck von Sch?nheit, Vollkommenheit und edler Form.
Video: Was k?nnen wir von den Bienen lernen? (Sendereihe "Mathematik zum Anfassen", BR-Mediathek)Granatapfelkerne und Erbsen sollten Kepler als n?chste natürliche Objekte dienen. Seine fortschreitenden ?berlegungen richteten sich nun darauf, welche Form runde, formbare Objekte annehmen, wenn sie gleichm??igem Druck ausgesetzt werden. Da Granatapfelkerne in unterentwickeltem Zustand rund seien und durch den Druck der ledrigen Au?enhülle des Granatapfels ihrem ungehemmten Wachstumstrieb nicht nachkommen k?nnten und daher (unter Anordnung der dichtesten Packung) zusammengepresst werden, n?hmen sie dodekaedrische Form an. Unter experimentellen Bedingungen k?nne man gleiches Ph?nomen bei Erbsen beobachten. Kepler schlussfolgerte, dass die dichteste Packung dadurch erreicht werde, wenn der K?rper in der Mitte von 12 K?rpern umgeben werde: Der Rhombendodekaeder sei daher die dichteste r?umliche Anordnung, also ein K?rper, der aus zw?lf gleichm??igen rautenf?rmigen Fl?chen besteht.
Die in der Natur h?ufig auftretenden Fünfergruppen (fünf Blütenbl?tter, fünf Kernkammern bei ?pfeln und Birnen) kann Kepler nur schwerlich naturwissenschaftlich erkl?ren: Er verweist auf die Zahl Fünf und ihre Rolle im goldenen Schnitt und schreibt ihr eine ?sthetische Funktion zu, die zudem mit Lebenskraft und Fruchtbarkeit einhergehe. Wie die sp?tere Forschung zeigen konnte, sind dennoch die Beobachtungen Keplers nicht als blo?e Phantasie zu werten: Liest man die Goldene Zahl als Zahlenfolge im Sinne Fibonaccis, so wird man dieses Ph?nomen auch in anderen Zusammenh?ngen entdecken wie z. B. den Samen der Sonnenblume.
Nach all diesen Vorüberlegungen wendet sich Kepler schlie?lich wieder dem Thema seiner Schrift zu: dem Schnee. Leider wird nur in einigen ?bersetzungen eine sprachlich notwendige Differenzierung getroffen. Das lat. Wort nix wird von Kepler weniger im Sinne einer Schneeflocke als vielmehr als deren Einzelbaustein verwendet, n?mlich des Schneekristalls.
Der Naturwissenschaftler erkannte, dass Schneekristalle zwar aus Eis bestehen, sich jedoch in ihrer Erscheinung vom gefrorenen Wasser unterscheiden wie z. B. vom Hagel als Niederschlagsph?nomen. Da der Kristallisierungsprozess eine Resublimation von Wasserdampf voraussetze, nahm der Naturwissenschaftler an, dass Schneekristalle aus winzigen gefrorenen, gleichgearteten Wasserdampfkügelchen in einer besonderen Anordnungsform bestehen: Die Kondensation entsteht gewi? durch die K?lte. Durch die Kondensation aber geht der Dunst zur Form des Sterns über. […] Zum zweiten sei es, da? diese Dunstkügelchen sich gegenseitig in einer bestimmten Anordnung berühren.
(Strunz/Borm: S. 10/13.) Die Notwendigkeit eines Kristallisationskeims in Form z. B. eines Staubk?rnchens findet keinen Eingang in die ?berlegungen Keplers.
Kepler besch?ftigt sich zuerst mit der Frage, warum ein Schneekristall flach (?platt“), also zweidimensional sei. Da ein Schneekristall nur zwischen Kalt- und Warmfront entstehen kann und dieser m?gliche Entstehungsraum sehr klein und in einer Ebene liege, sei die Schneeflocke flach. Mit damaligen Methoden musste in den Augen Keplers, ein Schneekristall zweidimensional erscheinen. (In Wirklichkeit ist er jedoch dreidimensional gestaltet, wobei seine Tiefe sehr gering ist, w?hrend die dendritischen Ausl?ufer den optischen Eindruck eines flachen Kristalls entstehen lassen.) Im Folgenden wird sich daher Kepler mit der zweidimensionalen Anordnung von gleichf?rmigen Eiskügelchen besch?ftigen.
Für die sechseckige Form des Schneekristalls lieferte Kepler eine Theorie, für die erst mit modernen Ger?ten mehr als 300 Jahre sp?ter ein Beweis gefunden werden konnte. Er vermutete, dass für die ?u?ere Gestalt die Eigenschaften von kleinen Kristallbausteinen verantwortlich sind, die gewisserma?en einen Bauplantyp vorgeben. bwin娱乐_bwin娱乐官网欢迎您@e Bestandteile des Schneekristalls seien so klein, dass sie nicht mit dem Auge erfasst werden k?nnen. Kepler greift hier auf eine atomistische Vorstellung zurück, wie sie in der Antike vor allem von Demokrit und den Epikur?ern vertreten worden war. Wie der Briefwechsel zwischen Kepler und Thomas Harriot belegt, hatte einst Harriot Kepler atomistische L?sungsvorschl?ge unterbreitet, die jedoch damals von Kepler noch zurückgewiesen worden waren.
Kepler vermutete, dass sich die Sechseckigkeit und die sechsz?hlige Symmetrie eines Schneekristalls darin begründe, dass sich kleinste, gleichgeartete Teilchen in dieser Weise anordnen, da nach ihrer Eigenschaft dies die dichteste Packung sei. Er zieht sogar in Erw?gung, dass diese mineral?hnliche Struktur durch ein Salz verursacht sein k?nne. Zu seiner Zeit konnte Kepler natürlich noch nicht Atome von Molekülen unterscheiden, so wenig wie er die Ausbildung von Wasserstoffbrücken zwischen Wassermolekülen annehmen konnte, die in ihrem Streben nach dem niedrigsten Energieniveau durch ihre Bauweise eine hexagonale Form im Kristallgitter einnehmen: ?Daher sollen die Chemiker sagen, ob im Schnee ein Salz ist, welcher Art dieses Salz ist und wie es die Figur hervorbringen k?nne.“ (Strunz/Borm: S.19.)
Verwundert wurde die Annahme Keplers, einer gestaltenden, übernatürlichen Kraft, einer facultas formatrix, rezipiert, die den Sch?pferwillen in der Sch?nheit der Kristalle ausdrücke. Ein Schlüssel mag in einer ver?nderten Lesart liegen, dass Kepler nicht etwa seine zuvor postulierte Theorie der atomaren Beschaffenheit durch einen übernatürlichen Gestaltungswillen unterlaufe, sondern vielmehr den innewohnenden Bauplan dieser kleinsten Teile, die sich wie von selbst zu wundersch?nen, aber doch sich ?hnelnden Formen arrangieren, einer g?ttlichen Macht zuschreibt.
Da Kepler keine n?heren Beschreibungsmodelle für Aussehen und Eigenschaft der kleinsten Teilchen geben konnte, verweist er auf die Disziplin der Chemie, die eine Antwort liefern k?nnte. Erst der deutsche Physiker Max von Laue konnte durch seine Entdeckung, dass sich durch die Beugung von R?ntgenstrahlen Kristallgitter darstellen lassen, Keplers These 1912 beweisen.
Der Mathematiker Thomas Hales (University of Pitsburgh) legte 1998 einen Beweis für die Keplersche Vermutung der dichtesten Packung im dreidimensionalen Raum vor und ein Gutachtergremium war sich zu 99 Prozent sicher, dass ein vollst?ndiger Beweis vorliegt. In der Fachwelt herrscht jedoch Uneinigkeit darüber, wann ein Beweis von Computerberechnungen nutzt, um als vollst?ndig anerkannt werden zu k?nnen.
Auf seinen Reisen verzeichnete Kepler in den Randmerkungen zu seinen Ephemeriden mehrfach das Wetter Regensburgs. In den Wintermonaten zeichnete es sich vor allem durch Nebel, strenge K?lte, eisigem Wind und Schnee aus. Im Gegensatz zu Placidus Heinrich handelt sich bei diesen Wetterbeobachtungen nicht um eine systematische Dokumentation des Regensburger Wetters, sondern um eine punktuelle Erfassung im Rahmen mehrerer Tage bis Monate.