Die sch?nsten Himmelsboten sind unserer Meinung nach die Schneeflockenkinder in dem Kinderbuch: Was Marilenchen erlebte! aus dem Jahr 1905. Das Erstlingswerk der Illustratorin und Autorin Sibylle von Olfers (1881-1916) ist heutzutage nur Wenigen bekannt, obgleich es sich damals erfolgreich verkaufte. Die Geschichte über Marilenchen l?dt Kinder ein, sich mit dem M?dchen in dem roten Mantel zu identifizieren und seine Reise ins Reich der Schneek?nigin und des Schneeprinzesschens in ihrer Fantasie mitzuerleben.
Als Marilenchen eine Stunde zu Hause alleine verbringen soll, da seine Mutter ausgegangen ist, schaut es gleicherma?en gelangweilt und ?ngstlich aus dem Fenster. Schneeflocken purzeln vom Himmel und treten durch ihre schwebende Bewegung in einen Dialog mit dem Kind: Sie springen und tanzen und locken. Marilenchen erkennt in dem Schneetreiben lebendige Flocken, die von der Illustratorin als Schneeflockenkinder mit wei?en Hemdchen und Kappen gezeichnet werden. An den H?nden gefasst, sinken sie vereint nieder, bisweilen treiben einzelne Schneeflocken umher: Das Niederschlagsph?nomen wird beseelt. Die Malerin kommt mit wenigen Farben aus: Grau- und Grün-Blau-T?ne werden nur von dem Braun der ?ste unterbrochen. Selbst Marilenchen zeigt sich am Fenster in blau-grauem Kleid. Die Szene (wie auch die folgenden) wird durch je ein Schneegl?ckchen in Jugendstilmanier gerahmt. Durch die verhaltenen T?ne strahlt das Bild die Ruhe und Stille einer verschneiten Landschaft aus.
Der bislang wortlose Dialog zwischen Mensch und Natur ver?ndert sich in dem zweiten Bild nun zu einer verbalen Verst?ndigung:
Komm nur heraus, Marilenchen klein, Wir wollen zur Schneek?nigin fahren.
Marilenchen will nicht mehr im Haus bleiben und geht nach drau?en, um dem munteren Treiben der Schneeflockenkinder zuzusehen. Ein weiteres Naturelement wird belebt: Der Wind als Junge mit langem wehendem Haar und zerfetztem grauem Anzug, der Bube Sausewind, wirbelt mit dicken Backen die Schneeflockenkinder kraftvoll umher. Die Schneeflockenkinder nehmen nun auch Blickkontakt zu dem M?dchen auf, das wiederum gebannt auf die wei?en T?nzer schaut: Marilenchens Faszination für den Schnee soll dieses Jahr unser Kartenmotiv stellen.
Der rote Mantel, die rote Kappe, die roten Handschuhe und die rote Strumpfhose lassen nun auch optisch das M?dchen zur Protagonistin der Geschichte werden: Sie rückt in den Mittelpunkt sowohl der Erz?hlung als auch des Bildes.
Das Abenteuer nimmt seinen Lauf: Sausewind zieht einen silbernen Schlitten in das Eisreich der Schneek?nigin. Ihre Tochter, das Eisprinzesschen, feiert Geburtstag mit Eisschokolade und Schneespeise. In dem Schloss aus Eis ist alles wundersam: Die Türme sehen aus wie Zuckerhüte, die W?nde sind durchsichtig, Schneem?nner eilen als stumme Diener umher, der Garten besteht aus glitzernden Eisblumen. Als Marilenchen müde vom Staunen und ersch?pft vom Spiel zu Boden sinkt, l?sst die K?nigin einen Eisb?renschlitten von einem Schneemann anspannen und das Kind wieder nach Hause zurückbringen.
In dem letzten Bild nimmt die Mutter das vermisste Kind freudig in die Arme, w?hrend der Schlitten mit seinem Kutscher nur noch durch wenige Striche in der wei?en Landschaft zu erkennen ist: Das m?rchenhafte Abenteuer wird von der Realit?t verdr?ngt. Die Autorin fordert die kleinen Leser auf, selbst das Schneereich aufzusuchen, wenn sie Marilenchens Geschichte keinen Glauben schenken wollen.
Die Kinderbücher Sibylles von Olfers z?hlen zu den bedeutendsten Buchillustrationen im Jugendstil. Ihr zweites Kinderbuch ist seit mehr als 110 Jahren ein Bestseller. In ihrer allegorischen Art, das Verh?ltnis des Menschen zur Natur zu darzustellen, veranschaulicht sie den Kindern den Kreislauf der Jahreszeiten: Etwas von den Wurzelkindern (1906) darf zu recht, auch durch seine kunstvolle Jugendstilornamentik, als Meisterwerk gelten.