?ber Selbstverst?ndlichkeiten redet man selten: zum Beispiel darüber, dass jeder Rezension ein komplexer Lektüreprozess vorausgeht. Wissenschaftliches Arbeiten und Verstehen, wissenschaftliche Diskurse setzen unaufhebbar Sprach- und Lesekompetenzen bei allen Beteiligten und auf allen Qualifikationsebenen voraus. Das f?ngt mit den Einführungsübungen im ersten Studiensemester der Studienanf?nger:innen an und zieht sich bis hin zu Habilitationsvortr?gen und natürlich darüber hinaus als Grundanforderung durch ein ganzes Forscher:innenleben. Kunstgeschichte hei?t ?Anschauung zur Sprache bringen‘! Und das hei?t immer auch Lesen!
Umso mehr alarmieren die jüngsten Nachrichten, die uns aus D?nemark erreichen, bislang einem europ?ischen Vorzeigeland der Digitalisierung auf allen Verwaltungsebenen und Ausbildungswegen. ?Laptop statt Buch‘, das schien jahrelang die schlagwortartig verkürzte Devise, wenn es darum ging, die Kompassnadel für die richtige didaktische Richtung einzunorden, wenn es darum ging, nachfolgende Generationen in ihrer intellektuellen Ausbildung ?zukunftssicher‘ zu machen. Umso mehr alarmiert es nun, wie umfassend neueste psychologische Studien unter anderem von der Universit?t Südd?nemark in Odense die psychischen Kollateralsch?den dieser umfassenden Digitalisierung aller Lebens- und Lernbereiche von Kindern und Jugendlichen kartografieren, beginnend mit Konzentrationsst?rungen, unterentwickelten sozialen Kompetenzen, dem gewachsenen Risiko für psychische Auff?lligkeiten und St?rungen und eben einer rapide abnehmenden Lesekompetenz. Auch in Schweden vermutet man inzwischen, dass die nicht zuletzt in Zeiten der Corona Pandemie zwangsl?ufig vorangetriebene Schuldigitalisierung Jugendlichen vielleicht sogar mehr schadet, als dass sie ihnen nutzt.
Inzwischen formiert sich unter dem Namen ?Switch off“ ein politisches Bündnis bis hinauf zur d?nischen Ministerpr?sidentin Mette Frederiksen, um ein kritisches Bewusstsein für die Gef?hrdungen und Spielregeln und Grenzen für den Einsatz technischer Ger?te zu formulieren und damit Kinder und Jugendliche vor den Auswüchsen und negativen Begleiterscheinungen einer omnipr?senten digitalen Welt zu warnen. Reumütig spricht Fredriksen in der d?nischen Zeitung Politiken von einem ?riesigen Experiment‘, das man mit der Digitalisierung ?in den Kinderzimmern‘ unternommen habe, ?ohne dessen Tragweite zu verstehen‘. Abhilfe schafft: Bücher lesen!
Was hei?t dies für Universit?ten? Das Problem einer abnehmenden Lesekompetenz ist mitnichten auf D?nemark und auch nicht auf Jugendliche in Schulen begrenzt. Auch im universit?ren Alltag werden inzwischen ein umfangreiches Lektürepensum, die Anforderungen eines genauen Quellenstudiums, oder ein kritisch-diskursives Erschlie?en eines publizierten Forschungsstandes nicht mehr als selbstverst?ndlicher und willkommener Einstieg in die Welt der Wissenschaft wahrgenommen, sondern erstaunlich oft als Handikap erlebt. bwin娱乐_bwin娱乐官网欢迎您@e Diagnose mag – auch dem ?u?eren Anschein nach – nicht als larmoyante Klage einer technikfeindlichen oder gar rückw?rtsgewandten geisteswissenschaftlichen F?cherkultur abgekanzelt werden, denn die Kunstgeschichte hat sich noch nie in ein solches Residuum abdr?ngen lassen: die Arbeit mit digitalen Arbeitstechniken, Datenbanken, webbasierten Recherchem?glichkeiten, E-Publikationsformen und so fort sind l?ngst als unverzichtbare Arbeitsinstrumente zum selbstverst?ndlichen Alltag einer digitalen Kunstgeschichte und Teil des akademisch-universit?ren Ausbildungsprogramms von Studierenden geworden, aber: all dies ersetzt nicht das Lesen.
Das Journal bietet auch in dieser Ausgabe ein breites Spektrum an Lektürefrüchten und Leseanregungen, verbunden mit Denkanst??en für weiterführende methodologische Diskussionen, beginnend mit Peter Seilers detaillierter Forschungsdiskussion zu Felix Thürlemanns Publikation Der Blick des Pan und den dort vorgelegten Vorschl?gen zur kunsthistorischen Zuschreibung der Heemskerck-Skizzenbücher. Um künstlerische Selbstinszenierung und gesellschaftliche Reflexion in der Bildgattung des Selbstportr?t geht es in Uwe M. Schneedes Darstellung, die von Vincent van Gogh bis zu Marina Abramovi? reicht. In ihrer Analyse der Renaissance er?ffnet Ulinka Rublack Perspektiven auf das modegeschichtliche Erscheinungsbild der Menschen und zeigt Verbindungen zwischen historischer und gegenw?rtiger Modekultur auf. Costanza Barbieri zeigt sich von den astrologischen Zusammenh?ngen im gemalten Horoskop des Agostino Chigi in der Villa Farnesina fasziniert. Regina Freyberger er?ffnet mit ihrem Katalog zur Ausstellung im St?del Museum Frankfurt eine neue Sichtweise auf K?the Kollwitz und pr?sentiert hierfür über 110 Werke der Künstlerin. Winfried Nerdingers ambitionierte Gesamtdarstellung der Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert schaut über die blo?e Analyse der Baukunst hinaus, und behandelt architektonische Entwicklungen im Kontext gesellschaftlicher und historischer Prozesse, von der Bauwirtschaft bis zur Denkmalpflege, wobei g?ngige kunsthistorische Ans?tze infrage gestellt werden. Die Kunsthalle München pr?sentiert von Februar bis Oktober 2024 die erste deutsche Einzelausstellung von Viktor&Rolf. Die Schau und der Katalog würdigen über 30 Jahre kreative Schaffenskraft der niederl?ndischen Designer, die den Anspruch haben, Mode und Kunst zu vereinen. Gabriele Klein untersucht in Pina Bausch und das Tanztheater praxeologisch die ?bersetzungsprozesse im Tanztheater Wuppertal, indem sie durch Analyse und Theoriebildung die künstlerischen, sozialen und ?sthetischen Dimensionen von Pina Bauschs Choreografien und deren Rezeption erforscht. Schlie?lich beleuchtet Robert Fleck in Kunst und ?kologie das Spannungsverh?ltnis zwischen Kunst und Natur im Kontext der zeitgen?ssischen Gesellschaft. Seine facettenreiche Analyse zeigt, wie Kunst auf ?kologische Herausforderungen reagiert und neue Perspektiven er?ffnet. Wir danken unseren Autorinnen und Autoren für ihre Beitr?ge und unseren Mitarbeiterinnen, Stella Geiger, unterstützt von Annika Bless und Hannah Semsarha für ihre vertrauensvolle redaktionelle Unterstützung.
Birgit Ulrike Münch?????????????? ?????????????????????????????????????????????? Christoph Wagner
Das Vorwort und das Inhaltsverzeichnis zum Download.