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Kollektivwissenschaft (Test)

Die Kollektivwissenschaft ist eine im Entstehen begriffene Disziplin, die von der Regensburger Forschungsstelle Kultur- und Kollektivwissenschaft, der Professur für Kollektiv- und Kulturwissenschaften und der Hansen-Stiftung betrieben wird. Im aktuellen Entwicklungsstadium stellt sie eine transdisziplin?re Forschungsperspektive auf den Gegenstand ?Kollektivit?t“ dar, ?hnlich dem, was man unter den sog. ?Studies“-Begriff fasst (s. cultural studies, gender studies). Man k?nnte also von Kollektivit?tsstudien oder collectivity studies sprechen.

Im Folgenden finden Sie weitere Informationen zur Kollektivwissenschaft und zu ihrem Gegenstand, der Kollektivit?t:


Drei zentrale Merkmale der Kollektivwissenschaft

Kollektivwissenschaft, wie sie an der Universit?t Regensburg betrieben wird, zeichnet dreierlei aus:

  1. Transdisziplinarit?t – vielf?ltige Einzeluntersuchungen, übergreifende Vokabulare: Einerseits loten wir den Gegenstand aus, indem wir Forschung f?rdern, die sich aus unterschiedlichsten disziplin?ren Perspektiven mit unterschiedlichsten Kollektivit?tsph?nomenen besch?ftigt. Andererseits versuchen wir, übergreifende Vokabulare zu entwickeln (s. z.B. Hansen 2022, Delitz 2018).
  2. Kollektivit?t meets Kulturalit?t: Den Impuls zur Entwicklung der Kollektivwissenschaft lieferte die Kritik an traditionellen Kulturbegriffen – also an der Vorstellung tendenziell homogener ethnischer oder nationaler Kulturen. Die Kollektivwissenschaft indes bezieht Kultur auf jegliche Art von Kollektivit?t, seien es Kleingruppen, Organisationen etc.: Kollektive sind Kulturtr?ger. Aus einer ?Gesellschaft‘ mit ?einer‘ Kultur wird so ein Kaleidoskop der Kollektive und Kulturen. Die Bedeutung von Kollektivit?t wird in vielen kulturwissenschaftlichen Arbeiten zu wenig berücksichtigt, die von Kulturalit?t fehlt in vielen soziologischen Kollektivit?tsforschungen.
  3. Sowohl-als-auch – Homogenit?t und Heterogenit?t: Debatten um Kollektivit?t und Kulturalit?t neigen zur Polarisierung: Die einen betonen kulturelle Homogenit?t und Einzigartigkeit (z.B. im Kulturrelativismus). Vergleiche und grenzüberschreitendes Verst?ndnis sind so kaum noch denkbar. Die anderen verweisen auf kulturelle Vielfalt (Heterogenit?t), Offenheit und Hybridit?t. Machtvolle Assimilations- und Exklusionsvorg?nge werden hier bisweilen unsichtbar. Der kollektivwissenschaftliche Ansatz betont das unhintergehbare Sowohl-als-auch (Hansen/Marschelke 2019).

Einige grunds?tzliche ?berlegungen zu Kollektivit?t

Gemeinsamkeiten bilden das Grundelement der Kollektivit?t (s. Hansen 2022). Alle Menschen weisen eine Vielzahl von Eigenschaften auf, die sie mit unterschiedlichen Mitmenschen teilen. Oder zu teilen glauben, denn auch der Glaube an eine wissenschaftlich nicht belegbare ethnische Homogenit?t oder gemeinsame, ?nationale‘ Geschichte (eine sog. Kontinuit?tsfiktion) kann einen (s Delitz 2018). Abstrahiert man solche Gemeinsamkeiten, erh?lt man die basalste Form von Kollektivit?t: Abstraktionskollektive (Kaffeetrinker, Tennisspieler) oder Humankategorien. Solche Abstraktionen finden wir in wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Statistiken ebenso wie in der Alltagssprache (z.B. Stereotype).

Kaffeetrinker sind indes nicht nur Kaffeetrinker, sondern z.B. auch Frauen, Lehrerinnen, Tennisspielerinnen, Brillentr?gerinnen, SPD-W?hlerinnen usw. Schon auf der kategorialen Ebene wird deutlich, dass Menschen einer Vielzahl von Kollektiven angeh?ren (Multikollektivit?t). Eine einzelne Gemeinsamkeit erfasst einen Menschen nur zum Bruchteil.

Nehmen Menschen im Hinblick auf eine Gemeinsamkeit Kontakt auf, entsteht ein Sozialkollektiv. Es kann von ganz kurzer Dauer sein, etwa wenn sich Menschen im Zug einen Tisch teilen, oder über Jahre bestehen wie viele Familien oder Organisationen. Je dauerhafter die Kollektive, desto wahrscheinlicher wird die Bildung kollektivspezifischer Kulturen und Normen. Selbst kleine Sozialkollektive sind indes stets – und sei es latent – segmentiert. bwin娱乐_bwin娱乐官网欢迎您@e Segmentierungen k?nnen jederzeit virulent werden: In einer Familie finden z.B. in bestimmten Situationen Grenzziehungen statt zwischen Generationen (Eltern und Kinder) oder Geschlechtern statt. Multikollektivit?t bedingt, dass Menschen ihre diversen kollektiven Zugeh?rigkeiten und Pr?gungen in jedes Kollektiv hineintragen, dessen Mitglied sie sind. Kollektive sind also stets offen, heterogen, ver?nderlich und potentiell instabil.

Offensichtlicher ist die Segmentierung bei komplexeren Kollektiven wie Organisationen oder sozialen Bewegungen. Bei jenen ist sie sogar geplant, man denke an das arbeitsteilige Zusammenwirken von Abteilungen in Wirtschaftsunternehmen (Produktion, Vertrieb, Marketing, etc.). Was auf Organigrammen wie eine gut ge?lte Maschine aussieht, kann jedoch im Alltag ein Dickicht aus Bürokratie und Interessenkonflikten darstellen. ?u?erst ausgepr?gt ist kollektive Vielfalt (Polykollektivit?t) z.B. in Nationalstaaten, deren schier unübersehbare Heterogenit?t von politischen und rechtlichen Zugriffen sowie Gewalt (Polizei, Milit?r) mal mehr, mal weniger erfolgreich zu kontrollieren versucht wird. In keinem kollektiven Zusammenhang sind Gemeinsamkeitsfiktionen so n?tig, nirgends so wenig plausibel (s. Delitz 2018).


Fragestellungen und Themenfelder

Verh?ltnis von Individuum und Kollektiv: Anders als in der klassisch liberalen Gegenüberstellung (wie schützt man Individuen vor Kollektiven?) wird in aktuelleren Ans?tzen die gegenseitige Konstitution betont: Keine Kollektive ohne Mitglieder, diese wiederum werden durch das Kollektiv gepr?gt oder subjektiviert, was ebenso Zwang zur Konformit?t meint wie die Bef?higung zum Handeln.

Grenzziehung: Gemeinsamkeiten vereinen nicht nur, sie grenzen zugleich ab. Gemeinsamkeiten bzw. Grenzen k?nnen auf ihre inhaltliche Ausgestaltung (Sympathie? Herkunft? Abgrenzung von wem oder was?), den Grad ihrer Formalisiertheit (informell, Vertrag, Pass? etc.) und ihrer Schlie?ung (von Exklusivit?t und Vertreibung bis Offenheit und Bekehrung) untersucht werden. Gerade aus einer post-kolonial informierten und an Nachhaltigkeit interessierten Perspektive wird überlegt, kollektivkonstituierende Gemeinsamkeiten über die Menschen hinaus auf Tiere, Pflanzen, Landschaften und Artefakte zu erstrecken. Hinzu kommen Fragen, wie Gemeinsamkeiten und Grenzen praktisch produziert (s. Marschelke 2019), durch welche materiellen Repr?sentationen sie dar- und hergestellt werden (s. z.B. das DFG-Projekt ?Architektonische Modi kollektiver Existenz“). Das verweist auf das Thema…

…Kulturalit?t und Kollektivit?t: In welchen Zusammenh?ngen stehen Kollektive mit Bedeutungssystemen? Inwiefern schaffen die Mitglieder sich selbst kollektivspezifische Bedeutungssysteme (Standardisierungen, s. Hansen 2022) und wie materialisieren sie diese (s.o., z.B. Architektur, Riten, s. Delitz 2018)? Und umgekehrt: Inwiefern sind Kollektive selbst kulturelle Produkte? (s. Marschelke 2022)?

Kollektives Handeln: Sozialphilosophisch ist schon die Koordination zwischen zwei oder drei Menschen eine voraussetzungsvolle Angelegenheit. Neben Koordinationsfragen, die bis zur organisierten Repr?sentation vieler durch eine einzige Person (z.B. Pr?sident*in, CEO) reichen, sind hier Fragen der Zuschreibung relevant: Ab wann werden z.B. diverse Proteste an verschiedenen Orten als die Aktionen einer sozialen Bewegung anerkannt?

Normative Dimension von Kollektivit?t: Wie sollte Kollektivit?t ausgestaltet sein, damit Individualit?t und Gemeinwohl in der richtigen Balance stehen? Welchen Einfluss hat diese Ausgestaltung auf Fragen der ?kologischen und sozialen Nachhaltigkeit (Stichwort ?Konvivialismus“)?


Literatur

Delitz

Hansen

Hansen/Marschelke

Marschelke



  1. FAKULT?T F?R SPRACH-/LITERATUR-/KULTURWISSENSCHAFT