Das literarische Quartett findet das n?chste Mal am 07. Juli 2022 statt.
Weitere Informationen sind hier zu finden: Achtung – Literatur!
Law and literature hei?t eine – zun?chst – geisteswissenschaftliche Str?mung, die sich Anfang der siebziger Jahre als Gegenbewegung gebildet hat zur ?konomisierung des Rechts (Law and Economics, ?konomische Analyse des Rechts).[N?her Armbrüster, Christian, ?Law and Literature“-Movement in den USA – eine Herausforderung von ?Law and Economics“? JR 1991, 61 ff.; Schramm, Law and Literature, JA 2007, 581 (ebd.) mit weiteren Nachweisen.] Die ?bersetzung mit ?Recht und Literatur“ ist zwar w?rtlich zutreffend, inhaltlich aber zu eng. Denn es geht keineswegs ausschlie?lich darum, sch?ngeistige Literatur mit den Augen des Juristen zu lesen und sich dann mit einem Literatur? oder Sprachwissenschaftler darüber auseinanderzusetzen (wenngleich auch das von Law and Literature umfasst ist). Vielmehr hielten die Initiatoren der Law-and-Literature-Bewegung den ?konomischen Ansatz für vollkommen unzureichend, um zu ergründen, wie Normen entstehen und Recht in der Gesellschaft wirkt (deskriptive Betrachtung) und wo sich Hilfen dafür finden lassen, das Recht und seine Anwendung zu entwickeln (normative/politische Betrachtung).[Vgl. dazu aus dem neuen deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttum Stürner, Rolf, Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Fokus neoliberaler Marktideologie (2007).] Daher wollten sie dem ?konomischen Ansatz Alternativen gegenüberstellen. Das Augenmerk galt zun?chst Literatur und Philosophie, namentlich dem Dekonstruktivismus Derridas, ferner der Soziologie. Schon für diese Disziplinen war ?literature“ also ein zweifelhafter Oberbegriff und allenfalls im Sinne des franz?sischen Begriffes ?lettres“ zutreffend (und in der Tat gibt es in Frankreich Arbeiten über ?lois et lettres“; allerdings ist auch dort die w?rtliche ?bersetzung gel?ufiger: ?droit et littérature“).
Heute l?sst sich unter den Begriff Law and Literature aber so gut wie alles fassen, was Recht beleuchten, erkl?ren oder anleiten will. Das ist für alle, die sich diesem Themenfeld widmen, zun?chst eine gro?e Chance, weil sich so fast unendliche Kombinations- und Kooperationsm?glichkeiten ergeben zwischen Philosophie, Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften, Theologie und Rechtswissenschaften bis hin zur Psychologie und (Neuro-)Biologie; n?her unten 2 b. Es ist allerdings zugleich eine Herausforderung und wirft die Frage auf, wie sich die Erkenntnisinteressen derer, die in den genannten Disziplinen t?tig sind, sinnvoll zu gemeinsamen Forschungs- und Lehrvorhaben verbinden lassen.
In den Vereinigten Staaten bieten rund einhundert Lawschools Law-and-Literature-Kurse an, darunter natürlich auch die gro?en Namen Harvard, Yale, Stanford und Princeton. ?ber www.sagepub.com sind mehrere zehntausend einschl?gige Publikationen zu erschlie?en. In Deutschland gibt es bislang zwar ein steigendes Interesse von seiten der Studierenden, aber kaum universit?re Angebote.
?blicherweise teilt man Law and Literature in drei Themenfelder ein:
a) ?Law in literature“ – Recht und Literatur im engeren Sinne
Juristen fragen, Dichter antworten – so hat Eberhard Schmidh?user sinngem?? seinen ?Streifzug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatt“ bezeichnet, der unter dem Titel ?Verbrechen und Strafe“ erschienen ist (der korrekten ?bersetzung des Dostojewski-Titels, den wir als ?Schuld und Sühne“ kennen).[Schmidh?user, Eberhard, Verbrechen und Strafe. Ein Streifzug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatt (2. Auflage 1996).] Es geht diesem Ansatz darum, den Erfahrungsschatz zu erschlie?en, der sich in der Literatur spiegelt, und Juristen für ethische, gesellschaftliche und politische Fragen empf?nglich zu machen. Neben der Literatur kommen Theater und Film in Betracht. Man nimmt die Kunst ernst als Kristallisation und Seismograph gesellschaftlicher wie geschichtlicher Entwicklungen. Und es finden sich auch immer wieder Werke, die gegenüber der zust?ndigen Fachwissenschaft einen zeitlichen Erkenntnisvorsprung aufweisen. Etwa formuliert Max Frisch in ?Andorra“ mit der Figur des andorranischen Juden bereits die Labeling-Theorie und veranschaulicht Dürrenmatt im ?Besuch der alten Dame“ Neutralisationstechniken, mit denen Menschen ihr verbrecherisches Verhalten vor den eigenen moralischen Normen rechtfertigen, wie es verst?rkt in Diktaturen geschieht (Fachwissenschaft ist jeweils die Kriminologie). – Unterthema von ?Law in literature“ k?nnen ferner die rechtlichen Grenzen der Literatur sein, das hei?t alles rund um die Kunstfreiheit des Artikels 5 Grundgesetz und deren Schranken.
b) ?Law as literature“ – ein weites Feld!
aa) Die g?ngige Abwandlung ?Law as literature“ ist eigentlich noch unklarer als Law and Literature, wenn man sich ansieht, was gemeint ist. Zwar geht es auch um die literarische Qualit?t des Rechts, also den Stil von Rechtstexten, von Gesetzen über Urteile bis hin zur rechtswissenschaftlichen ?Literatur“. Und über den Stil im engeren Sinne hinaus lassen sich solche Texte natürlich auf s?mtliche sprachlichen Parameter hin untersuchen (Fachbegrifflichkeit, Fremdwortdichte, rhetorische Figuren…). In Regensburg tut dies seit einigen Jahren mit gut besuchten Symposien und einem bundesweit ausgelobten Preis der interdisziplin?re Arbeitskreis Sprache und Recht (www-spracheundrecht.uni-regensburg.de).
bb) Aber Law as literature ist noch ein deutlich weiteres Feld. Es umfasst alle F?cher und Disziplinen, die etwas dazu sagen k?nnen, wie Recht entsteht oder entstehen sollte und wie es wirkt oder wirken sollte: Philosophie, Ethik, Soziologie, Theologie, Geschichte und Politikwissenschaften. Zum Beispiel bietet das Jheringsche Konzept der ?Interessenjurisprudenz“ einen Anknüpfungspunkt für Gesellschaftswissenschaften, indem es die Ergebnisse der juristischen Methodik – und damit diese Methodik selbst – auf die Interessen gesellschaftlicher Gruppen oder der Gesellschaft als ganzer zurückführt. Philosophie und (Moral-)Theologie k?nnen sich mit gesellschaftlichen Utopien ebenso befassen wie mit dem ?Recht, das mit uns geboren ist“, dem Naturrecht, oder weniger juristisch formuliert: mit normativen Vorgegebenheiten des Rechts. Gender-, Race- oder Queerstudies sind einschl?gig und lassen sich – als Beispiel – auf das Familienrecht ausdehnen oder mit ihm vergleichen: Wann und inwieweit folgt die rechtliche Regelung der Verh?ltnisse von M?nnern und Frauen, Eltern und Kindern gesellschaftlichen Entwicklungen? Oder moralischen Ansprüchen oder beidem? (Zur Genderdiskussion auch sogleich cc und unten c.) Weitere Themenbeispiele bietet das Programm des Symposions ?Politisches Denken und literarische Form“, das an der Universit?t Regensburg 2010 vom Forum Mittelalter veranstaltet wurde.[Auszug: Prof. Dr. Klaus K?hle, Politikwissenschaft (Universit?t Regensburg): Frauenrechte avant la Lettre: Die Querelle-Literatur (Christine de Pizan, Vittoria Colonna, Gaspara Stampa, Moderata Fonte); Prof. Dr. Kari Palonen, Politische Philosophie (Universit?t Jyv?skyl?): Von Foundations of Modern Political Thought zu Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes: Quentin Skinner und sein Forschungsprogramm; Prof. Dr. Johannes Bartuschat, Roman. Literaturwissenschaft (Universit?t Zürich): Ethik, Rhetorik und Politik bei Brunetto Latini; Prof. Dr. Peter Kuon, Roman. Literaturwissenschaft (Universit?t Salzburg): Zur Literarizit?t politischer Renaissance-Utopien.]
cc) Politik- und Gesellschaftswissenschaften k?nnen sich ferner mit der Genese von Gesetzen besch?ftigen: welche Rolle spielen Lobbies, welche die Medien? Die Wirkung von Medien l?sst sich mit Blick auf Einzelne natürlich auch psychologisch untersuchen: Machen beispielsweise Gewaltdarstellungen gewaltt?tig? Psychologisch kann ferner untersucht werden, wie gerichtliche Entscheidungen zustande kommen. Aufsehenerregende Beispiele liefern in jüngerer Zeit eine Reihe von Fehlverurteilungen wegen vorgeblichen sexuellen Missbrauchs von Frauen und Kindern.[Siehe Rückert, Sabine, Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen (2007).] Der Berührungspunkt zu den Gesellschaftswissenschaften liegt auf der Hand: Geh?ren diese Verfahren zur ?dunklen Seite des Feminismus“ (Sabine Rückert)? – Einen klassischen Berührungspunkt gibt es zwischen Geschichte und Rechtswissenschaften in der Rechtsgeschichte. Als Beispiel eines aktuellen Forschungsvorhabens sei das Projekt des Regensburger Professors für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte Martin L?hnig genannt, Akten der bayerischen Justiz daraufhin zu untersuchen, in welchem Ma?e die allgemeine Ansicht tats?chlich zutrifft, dass in der Weimarer Republik die Justiz ?auf dem rechten Auge blind“ gewesen sei, Kriminalit?t ?von links“ hingegen um so h?rter und willkürlicher verfolgt habe (eine Ansicht, die auch in der sch?ngeistigen Literatur vorherrscht)[Mit Zahlen unterfüttert in Feuchtwanger, Lion, Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz [d. i. Bayern, T. W.] (1930). Vgl. auch Ottwalt, Ernst, Denn sie wissen, was sie tun (1931).]. Ein methodisch ?hnliches Beispiel ist die Habilitationsschrift Regina Schultes, die Gerichts- und Verwaltungsakten aus Oberbayern 1848–1910 durchgesehen hat auf die Delikte Brandstiftung, Kindsmord und Wilderei.[Als Buch ver?ffentlicht unter Schulte, Regina, Das Dorf im Verh?r (1989).] Sie bieten einen Spiegel gesellschaftlicher Verh?ltnisse in der Justiz, der sich aber erst mit geschichtlichen und psychologischen Kenntnissen verstehen l?sst. Erst mit ihrer Hilfe erkennt man etwa den expressiven Gehalt der Wilderei als eines – im Dorf durchaus ?gesellschaftsf?higen“ – Aufbegehrens gegen die Obrigkeit: Kriminalit?t als Sprache und Symbol. Und erst mit ihrer Hilfe erf?hrt man von der Situation der faktisch heiratsunf?higen, saisonal hier und dort besch?ftigten Knechte und M?gde, für die eine nichteheliche Schwangerschaft in einer Zeit ohne moderne Kontrazeptive die unausweichliche Folge von Sexualit?t gewesen ist – und für die M?gde gleichbedeutend mit der Unm?glichkeit, weiter zu arbeiten und wirtschaftlich zu überleben: Kriminalit?t als Ableitung aus Lebensbedingungen.
dd) Neuerdings beteiligen sich aber zu Recht auch naturwissenschaftliche Disziplinen an der Debatte um die Entstehens- und Seinsbedingungen des Rechts. Am prominentesten tun dies die Neurobiologie und die Hirnforschung, die verst?rkt die Frage stellen, ob der Wille des Menschen denn tats?chlich frei sei – wie es unsere Rechtsordnung auf allen Gebieten voraussetzt. bwin娱乐_bwin娱乐官网欢迎您@e Diskussion wird schon l?ngst interdisziplin?r geführt im Grenzgebiet von Naturwissenschaften, Philosophie und Jurisprudenz. Zudem wird sie ?ffentlich geführt und ist so auch ein gutes Beispiel für den Dialog von Wissenschaft und (Zivil-)Gesellschaft. Und sie ist nicht auf die Frage der Willensfreiheit beschr?nkt. Eine denkbare Erweiterung hat die letzte Strafrechtslehrertagung besch?ftigt, und zwar die Frage nach den medizinisch-biologischen M?glichkeiten und den rechtlichen Grenzen sogenannten Gehirndopings und vergleichbarer Eingriffe (pharmakologisches ?Enhancement“ der F?higkeiten des Gehirns).[Siehe Merkel, Reinhard, Neuartige Eingriffe ins Gehirn. Verbesserung der mentalen condicio humana und strafrechtliche Grenzen, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) Band 121 (2009) S. 919 ff.]
ee) Auch die Anwendung der Spieltheorie – die sich nicht nur einer Disziplin zuordnen l?sst – kann rechtswissenschaftliche Erkenntnisse liefern. Etwa haben Spielversuche namentlich der evolution?ren Spieltheorie die Erkenntnis geliefert, dass Menschen unkooperatives und egoistisches Verhalten anderer auch dann auf eigene Kosten bestrafen, wenn sie dem fraglichen Gegenspieler garantiert nie wieder begegnen und auch sonst von einer etwaigen Verhaltens?nderung weder direkt noch indirekt profitieren k?nnen. Für juristische Sanktionen, allen voran Kriminalstrafen, liefert dieser offenbar tief in der menschlichen Natur verankerte ?Hunger nach Gerechtigkeit“ m?glicherweise eine überzeugendere Legitimation als die g?ngigen rein theoretischen Konzepte der Juristen. Denn wenn die Menschen von Natur aus das Bedürfnis haben, stark unfaires Verhalten unabh?ngig von zweckrationalen Erw?gungen zu sanktionieren, kann eine stabile Gesellschaft nur eine solche sein, die dieses Bedürfnis befriedigt.
ff) Das leitet über zur Welt alles Rechtstats?chlichen, dem man sich unter dem Dach von Law as literature widmen kann, also zu den realen gesellschaftlichen (institutionellen und so fort) Voraussetzungen des Rechts und seinen ebenso realen Wirkungen. Für das Strafrecht wird dieser Bereich von der Kriminologie abgedeckt. Sie hat seit jeher enge Verbindungen zu den Gesellschaftswissenschaften, zur Psychologie und zur Medizin.
gg) Schlie?lich k?nnen als Law as Literature auch alle Methoden und praktischen Techniken gelten, mit denen man das Recht findet oder – je nach Standpunkt – gewinnt. Aus juristischer Sicht ist das neben der klassischen Methodenlehre alles, was der neue § 5a des Deutschen Richtergesetzes (DRiG) als ?Schlüsselqualifikationen“ bezeichnet: Gespr?chs- und Verhandlungsmanagement, Mediation, Rhetorik.
c) ?Laywers as writers” – Dichterjuristen und solche, die’s vielleicht gerne geworden w?ren (?literaphile Juristen“)
Es gab und gibt in Deutschland wie international viele Schriftsteller und Dichter mit juristischer Ausbildung und oft sogar mit juristischem Beruf, als gegriffene Beispiele (alphabetisch): Eichendorff, Flaubert, Goethe, Grisham, Hebel, Heine, E. T. A. Hoffmann, Kafka, Alexander Kluge, Petrarca, Proust, Rosendorfer, Schlink, Walter Scott, Storm, Thoma, Tucholsky, Juli Zeh … Ferner gab und gibt es zahlreiche Juristen, die sich mit Law in literature befasst und Texte verfasst haben, die sich nicht mehr als rein juristische bezeichnen lassen, zum Beispiel (alphabetisch): Diederichsen, P. J. A. Feuerbach, E. Fechner, Gro?feld, H?berle, Josef Kohler, Limbach, Lüderssen, Müller-Dietz, Radbruch, Roxin, Schmidh?user, P. Schneider, Stolleis, Vitzthum, M. Walter. Für sie alle l?sst sich untersuchen, welchen Einfluss das eine auf das andere gehabt hat: die juristische Ausbildung oder T?tigkeit auf ihr Schreiben, und ihr nichtjuristisches Wissen und Schaffen auf ihren Beruf und ihre rechtswissenschaftlichen Werke. Solche biografischen und Werkstudien bieten zudem die M?glichkeit, zeitgeschichtliche Forschungen einzubeziehen und so Literatur-, Rechts- und Geschichtswissenschaften zu verknüpfen. Dass die Namenslisten oben au?er Jutta Limbach und Juli Zeh keine Frauen enthalten, ist vielleicht auch ein Anreiz, einen geschlechterspezifischen Blickwinkel einzunehmen.
?Juristen fragen, Dichter antworten“ – so hat Eberhard Schmidh?user im Vorwort des Buches Verbrechen und Strafe sein Vorhaben umrissen, Texte der Weltliteratur über Themen zu befragen, die auch Juristen besch?ftigen. Das Projekt Die Würde des Menschen will ?hnlich verfahren, ist aber einerseits weiter und andererseits enger angelegt. Enger, da es nur um ein einziges Thema geht: die Würde des Menschen, die das Grundgesetz an die Spitze der deutschen Rechtsordnung stellt. Weiter, weil nicht nur die sch?ngeistige Literatur befragt werden soll, sondern auch andere Medien (im weiteren Sinne), von der bildenden Kunst über Film und die Medien im engeren Sinne bis hin zu Computerspielen und ihren impliziten Botschaften an die Nutzer.
?Au?erdem sollen die Juristen nicht nur fragen, sondern auch selbst antworten. Denn was die Menschenwürde ausmache und was sie einfordere, ist in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis umstritten. Und dies, obwohl der Begriff der Menschenwürde – weil sie der H?chstwert der Rechtsordnung ist – immer wieder eine entscheidende Rolle spielt; sei es bei der Frage, was zu einem menschenwürdigen Existenzminimum geh?re, bei der Frage, ob man Menschen ein (selbst-)entwürdigendes Verhalten verbieten dürfe (etwa in ?Peepshows“ und ?Flatrate-Bordellen“), bei der Frage, ob man ein Flugzeug abschie?en dürfe, das von Terroristen entführt wurde, bei der Frage, ob mutma?lichen Straft?tern Schmerzen angedroht oder sogar zugefügt werden dürften, um Informationen zur Rettung des Opfers zu erlangen – und andere mehr. Von besonderem Interesse sind ?u?erungen des Bundesverfassungsgerichts. Doch haben sich auch andere Gerichte und namhafte Rechtswissenschaftler zu Wort gemeldet, und da der Begriff der Menschenwürde auch in anderen L?ndern sowie in internationalen Regelwerken1 von zentraler Bedeutung ist, bietet sich die M?glichkeit rechtsvergleichender Studien.
?Es sollen also, zusammengefasst, Recht und Kultur zum Thema ?Menschenwürde“ befragt werden. Im einzelnen kommen folgende Themen in Betracht:
?Was macht die Würde des Menschen aus und was verletzt sie?
?Wem kommt die Menschenwürde zu – und in welcher Form?
Was ist der Grund dafür, dem Menschen eine besondere Würde zuzusprechen?
Die g?ngigen Antworten der Juristen betreffen naturgem?? die negative Seite der Medaille, also das ?Antasten“ der Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes). Die klassische Objekt-Formel des Bundesverfassungsgerichts verbietet – anknüpfend an die Arbeiten Günter Dürigs –, dass der ?konkrete Mensch zum Objekt, zu einem blo?en Mittel, zur vertretbaren Gr??e herabgewürdigt wird“2. Das lehnt sich an Kants Instrumentalisierungsverbot an: ?denn der Mensch kann von keinem Menschen […] blo? als Mittel, sondern mu? jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht seine Würde“3. bwin娱乐_bwin娱乐官网欢迎您@e Formel ist aber anerkannterma?en (zwar wohlklingend, aber) wenig ergiebig, und ?einen allgemein akzeptierten, dogmatisch pr?zisen Rechtsbegriff der Menschwürde […] gibt es nicht“4. Vielmehr hilft man sich damit, Fallgruppen zu bilden und für sie eher dezisionistisch denn deduktiv darüber einig zu sein, ob eine Verletzung der Menschenwürde vorliege oder nicht. Wissenswert w?re zum einen, ob es neben einer solchen Begriffsbildung ex negativo auch m?glich ist, die Würde des Menschen positiv zu bestimmen oder wenigstens zu beschreiben. Zum anderen fragt sich, ob die Fallgruppen, die Juristen bilden, in den kulturellen Ausdrucksformen der Gesellschaft Entsprechungen finden. Beide Male kann der Blick auch über die deutschen Grenzen hinauswandern.
?Soweit man juristische Texte zu diesen Fragen liest, etwa Urteile des Bundesverfassungsgerichts, bieten sich deren Stil und deren Begründungsstrang (Argumentationsmuster) als weitere Untersuchungsgegenst?nde an. Denn zwar nehmen Juristen für sich in Anspruch, streng objektiv, logisch und sachlich zu argumentieren; ja nicht einmal zu argumentieren, sondern ihre Ergebnisse Naturwissenschaftlern vergleichbar more geometrico aus Vorgegebenem abzuleiten, vor allem aus Gesetzen. Aber es gibt deutliche Zeichen dafür und auch schon erste Untersuchungen dazu, dass es damit nicht so weit her ist und dass juristische Begründungen wesentlich rhetorischer und literarischer sind, als ihre Verfasser meinen; vor allem dann, wenn es um so grundlegende Fragen geht wie die nach der Menschenwürde und dem rechtlichen Gehalt dieses Begriffs.5 In der anglo-amerikanischen Law-and-Literature-Bewegung firmieren solche Betrachtungen unter dem Schlagwort ?law as literature“.
Die Frage klingt banal bis gef?hrlich, da klar ist, dass alle Menschen Tr?ger der Menschwürde sind, und dies mit einer solchen Frage wom?glich in Zweifel gezogen werden soll. Doch darum geht es nicht. Sondern es geht zum einen um die zeitliche Dimension der Menschenwürde: Ab wann und bis wann kommt sie dem menschlichen Leben zu – schon vor der Geburt? Noch nach dem Tod? Die vorgeburtliche Menschenwürde spielt bekanntlich in der Bioethik eine wichtige Rolle und für die Rechtsfragen rund um den Embryonenschutz und die Gentechnik. bwin娱乐_bwin娱乐官网欢迎您@es Feld wird allerdings schon von vielen und intensiv beackert. Immerhin mag man noch einmal die grunds?tzliche Frage stellen, ob der Schutz menschlichen Lebens stets und vollst?ndig gleichbedeutend sei mit dem Schutz der Menschenwürde (etwa mit der etwas provokanten ?berschrift ?Wieviel Würde hat ein Reagenzglas?“, die ich einmal verwendet habe6).
?Zum zweiten l?sst sich darüber nachdenken, ob die Würde, die dem Menschen zukommt, tats?chlich qualitativ etwas Speziestypisches ist – oder ob sie quantitativ abgestuft auch anderen Lebewesen zugesprochen werden muss. Dafür spricht aus religi?ser, jedenfalls aus christlicher Sicht, dass auch diese Lebewesen ?Gesch?pfe Gottes“ sind. Als gesellschaftlicher Befund sprechen dafür zahlreiche Bündnisse und Aktivit?ten zum Tier- und Naturschutz. Rechtspositiv ist an das Tierschutzgesetz zu denken (das noch einmal zwischen warmblütigen Tieren, sonstigen Wirbeltieren und anderen differenziert).
?Drittens ist zu fragen, ob es für M?nner und Frauen nur eine geschlechterübergreifende Menschenwürde gebe – oder ob sie sich in eine besondere Würde der Frau und eine Würde des Mannes untergliedere; sei es, dass man im Kern von einem einheitlichen Begriff ausgeht und (nur) im Randbereich geschlechtsspezifische Besonderheiten ausmacht, sei es, dass man schon im Ansatz unterschiedlich definiert (was auf dem Boden einer radikal feministischen Sicht nicht ausgeschlossen erscheint). Gewisse Hinweise auf eine geschlechterabh?ngige Differenzierung liefert das gesellschaftliche Leben; etwa wenn es – sehr frei gegriffenes Beispiel – unbeanstandet bleibt, dass weibliche Reinigungskr?fte in B?dern, ?ffentlichen Toiletten und Fitnessstudios auch auf den Herrentoiletten und in den Herrenumkleiden t?tig sind, und zwar auch w?hrend deren Benutzung, wohingegen m?nnliche Reinigungskr?fte zu Damenumkleiden und -toiletten w?hrend der ?ffnungszeiten kategorisch keinen Zutritt haben. (Auch baulich gew?hren nur Damentoiletten jeder Benutzerin gegenüber anderen Benutzerinnen Sichtschutz.) Ein weiterer Hinweis ist die T?tigkeit des Deutschen Werberates, der über die Einhaltung eines ethischen Mindeststandards in der kommerziellen Werbung wacht. Er hat zwar schon Kampagnen gestoppt wegen sexistischer oder erniedrigender Darstellungen von Frauen, aber noch nie wegen entwürdigender Darstellungen von M?nnern; obwohl es vielleicht die eine oder andere Kampagne gegeben hat und gibt, die Gewalt von Frauen gegen M?nner oder sexistische Darstellungen von M?nnern als etwas Positives und Witziges darstellt. Mit der T?tigkeit dieses Rates ist die Grenze zum Rechtlichen mindestens berührt, denn der Werberat kontrolliert auch die Einhaltung rechtlicher Vorschriften und übt in allen F?llen eine normative T?tigkeit aus, indem er Verhaltensregeln definiert und durchsetzt.
?Auf der anderen Seite richtet sich eine besonders deutliche Sorte von Angriffen auf die Menschenwürde weltweit überwiegend gegen Frauen, und zwar Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung und Intimsph?re: sexuelle N?tigung, Vergewaltigung, Zwangsprostitution, Zwangsehen, Menschenhandel zu diesen Zwecken sowie pornografische Zurschaustellungen weiblicher K?rper. Dagegen ist auf allen Ebenen Widerstand zu verzeichnen, von der Kunst über die Politik bis zum Recht. bwin娱乐_bwin娱乐官网欢迎您@er Widerstand wird jedenfalls in der Kunst und der Politik durchaus geschlechtsspezifisch formuliert, etwa – in der Politik – als Einsatz für Frauenrechte und mit der Mahnung ?Frauenrechte sind Menschenrechte“ (womit man aber nicht nur die sexuelle Selbstbestimmung und Intimsph?re meint). Wissenswert erscheint, ob das Geschlechtsspezifische solchen Einsatzes darin begründet ist, dass eine für Frauen und M?nner einheitlich zu bestimmende Menschenwürde in diesen F?llen besonders stark bedroht und oft verletzt wird (= erh?htes Schutzbedürfnis); oder auch – natürlich nicht ausschlie?lich – darin, dass man sie mit Blick auf ihre weiblichen Tr?ger anders und tendenziell weiter definiert (= erweiterter Schutzgegenstand). Nur zur weiteren Illustration ein Fall, in dem der Westen dies zweite tut: die Beschneidung. An Jungen ist sie rechtlich zul?ssig (Ausnahme Schweden) und moralisch mit oder ohne religi?sen Hintergrund indifferent; an M?dchen ist sie ausnahmslos ge?chtet; das hei?t nicht nur in den schweren Formen (Entfernung des sichtbaren Teils der Klitoris und weiteres), für die es bei Jungen keine vergleichbaren Praktiken gibt, sondern auch in den leichteren Formen, die medizinisch der Zirkumzision vergleichbar sind.
?Damit ist eine letzte denkbare Differenzierung angesprochen, die Würde des Kindes. Für sie ist wiederum zu fragen, ob im Vergleich mit der allgemeinen Würde des Menschen Besonderheiten zu verzeichnen seien. Darauf gibt es deutliche Hinweise: Zu Lasten des Kindes ist seine Selbstbestimmung gegenüber der eines Erwachsenen stark eingeschr?nkt. Wo es sich aufh?lt, was es anzieht, was es isst, was es tut, bestimmen weithin andere. Und obwohl § 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches Kindern ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gibt ohne k?rperliche Strafen, seelische Verletzungen und andere ?entwürdigende Ma?nahmen“, befürworten namhafte Juristen, dass es Eltern weiterhin zustehe, ihr Kind k?rperlich zu – wie man noch immer sagt – züchtigen. Zu Gunsten von Kindern hingegen gelten zahlreiche Schutzvorschriften, und auch au?erjuristisch genie?en Kinder besonderen Schutz. Und besondere Wertsch?tzung: Die Nachrichten vermelden es stets ausdrücklich, wenn Kinder gef?hrdet oder unter den Opfern eines Unglücks sind.
?(Soweit dies mit dem Satz geschieht ?unter den Opfern sind auch [zahlreiche] Frauen und Kinder“, liegt darin zudem wieder ein Indiz für geschlechtsspezifische Ungleichbewertungen. Dasselbe gilt für die tradierte Devise ?Frauen und Kinder zuerst“, wenn ein sinkendes Schiff zu r?umen ist [denn die Hilfsbedürftigkeit kann nicht ausschlaggebend sein; sonst müsste es – zum Beispiel – hei?en: ?Nichtschwimmer und Kinder zuerst“].)
Juristen lehren, unsere heutige Idee von der Würde des Menschen habe ihren Ursprung in der Vorstellung von der ?Gottesebenbildlichkeit“ des Menschen (Imago-Dei-Lehre)7. Allerdings ist das in der christlichen Lehre schon immer nicht nur als Auszeichnung, sondern auch als Verpflichtung verstanden worden, der sich keineswegs jeder Mensch gewachsen zeigt. Kritische Stimmen mahnen gleichwohl, der Mensch solle sich nicht so wichtig nehmen. Sie sind vor allem dort zu h?ren, wo es um den Schutz der Tier?, Pflanzen? und sonstigen Umwelt geht. Und es fragt sich, ob eine besondere Würde des Menschen auch seitens jener begründbar sei, die Religion und Metaphysik vollst?ndig ablehnen. L?sst sich dem Menschen ein Würde-Sonderstatus auch zuerkennen, wenn man nichts als Vernunft und Agnostizismus zur Verfügung hat – oder schmilzt die Menschenwürde dann zu dem zivilisatorischen Klugheitsgebot des kategorischen Imperativs (andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden will)? Und um auf die christliche Lehre zurückzukommen: Was ist ihre Antwort heute, wenn man sie nach ihren Verbindungen zum Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes fragt?
1 So in der Allgemeinen Erkl?rung der Menschenrechte von 1948, im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ebenfalls von 1966, in dem VN-?bereinkommen gegen Folter u. s. w. von 1984 und in der Pr?ambel der Charta der Grundrechte der Europ?ischen Union.
2 So Günter Dürig A?R 81 (1956) S. 117 (127) und daran anknüpfend BVerfGE 9, 89 (95); 87, 209 (228); BVerfG NJW 1993, 3315.
3 Immanuel Kant, DieMetaphysik der Sitten. Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (1797), § 38.
4 Horst Dreier, in: Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl. 2004, hg. v. Horst Dreier, Art. 1 Rn. 50.
5 Siehe Katharina von Schlieffen, Rhetorische Analyse des Rechts, in: Soudry (Hg.), Rhetorik. Eine interdisziplin?re Einführung in die rhetorische Praxis (2. Aufl. 2006), S. 42 (50 ff.); meine ?Kleine Rhetorikschule für Juristen“ (2009) S. 40 ff., 143 ff., 183 ff.
6 In dem Buch ?Die Kultur der Verantwortung“ (2007) S. 120.
7 Siehe Dreier (Fn. 4) Rn. 5 mit zahlreichen Nachweisen. Aus dem nichtjuristischen Schrifttum etwa Klaus Koch, Imago Dei – Die Würde des Menschen im biblischen Text (2000).